4. September 2015

Gefangener der Zeit

Von Th.-M. Robscheit
This entry is part 20 of 134 in the series geistliches Wort

Wiedereinmal bin ich Gefangener der Zeit: Was heute, am Donnerstag, wenn ich diese Zeilen schreibe, noch Zukunft ist wird, wenn Sie liebe Leser diese Zeitung in der Hand haben, schon Vergangenheit sein. Wie wird das, so frage ich mich, wie wird das am Sonnabendvormittag überhaupt bei Ihnen, liebe Leser sein? Ich stelle mir vor: Sie sitzen am Frühstückstisch, Duft von Kaffee in der Luft, Marmelade auf frischen Brötchen, Ruhe um die Zeitung zu lesen. Welche Meldungen werden darin stehen?
Das Geiseldrama in der Schule im Kaukasus. Was wird passiert sein? Wie wird Putin reagiert haben? Wie die Geiselnehmer? Wie andere Staaten? Was wird in den Kindern, die ihren ersten Schultag sicherlich fröhlich beginnen wollten, vorgegangen sein; werden sie noch leben? Oder ist das da alles schon wieder vergessen?
Mich berührt das sehr, vielleicht weil ich selber ein Kind habe, das in die erste Klasse geht. Was geht in den Eltern vor? Welche Ängste durchleben sie, was wird vielleicht an Träumen am Sonnabend, während Sie Ihre Brötchen essen, schon ausradiert und vernichtet sein?
Ich frage mich aber auch, wie sollte eine Staatsmacht auf Terrorismus reagieren? Verhandeln (und damit zwangsläufig zumindest teilweise sich dem Druck der Terroristen beugen) oder hart durchgreifen und bewusst in Kauf nehmen, dass Kindheit in einem blutigen angsterfüllten Chaos endet? Natürlich würden wir nie ein Menschenleben gegen ein anderes aufrechnen, aber tief in unserem Inneren kalkulieren wir doch so: Öffnet man nicht jeder Erpressung Tor und Tür, wenn man sich einmal beugt? Dann doch die Kinder töten lassen; das Schreien, die Tränen, die vor Angst aufgerissenen Augen nicht wahrhaben wollen?
Wie wird es sein, wenn Sie diese Zeilen lesen? Vielleicht denken Sie kaum noch an das Unglück, genauso wenig, wie wir den Krieg in Tschetschenien oder Flüchtlinge im Sudan und die täglichen Toten in Israel. Was aber, wenn Sie sich ernsthaft vorzustellen versuchten, Sie säßen nicht bei Kaffee und Brötchen am Frühstückstisch, sondern hätten die Verantwortung in einem solchen Geiseldrama? Mich schaudert bei diesem Denken! Denn es wird mir bewusst, dass es keine gute Lösung geben kann, was auch immer getan wird, irgendwie wird es falsch sein. Und es fallen mir andere Situationen ein, in denen ich nicht die Wahl zwischen richtig oder falsch, zwischen gut oder böse habe: der Verbrauch von Ressourcen zuungunsten unserer Enkel, unser Lebensstandard auf Kosten anderer Länder und ihrer Bewohner, das tagtägliche Beugen unter Sachzwänge entgegnen meinen eigenen Träumen.
„So ist das auf dieser Welt!“, werden Sie vielleicht denken, doch das frische Brötchen in ihrer Hand schmeckt irgendwie fahl. So ist das in dieser Welt: Man möchte Gutes tun, und scheitert doch immer wieder, in Gedanken genauso wie in Taten. Muss einen das nicht zur Verzweiflung treiben oder zur Ignoranz? Wenn man immer wieder feststellen muss, wie oft man nicht dem Menschlichen zum Sieg verhelfen kann? Ja es müsste; wenn, ja wenn uns Gott nicht versprochen hätte, dass er diese Schuld, das häufige Versagen unserer Menschlichkeit trägt, damit wir frei sind. Frei um das Gute, das zu tun in unseren Kräften steht, auch tatsächlich anzupacken.

Ihr Th.-M. Robscheit, Kapellendorf
Wort zum Sonntag 4./5. 9. 2004-09-02

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