4. September 2015

„Verdammt lang her, verdammt lang“

Von Th.-M. Robscheit
This entry is part 17 of 134 in the series geistliches Wort

„Verdammt lang her, verdammt lang“, manchmal kommt Musik, die ich in meiner Jugend gehört habe, mir wieder zu Bewußtsein. Ich nehme die Platte (so alt bin ich nun schon, daß ich noch Schallplatten besitze) aus dem Regal. Erinnerungen. BAP 1984 „Von drinne noch drussen“. Heiß begehrt damals. Schon eine Ewigkeit seitdem vergangen. „verdampt lang her“, wie Niedecken singt.
Ohne daß die Platte läuft entstehen Melodie und Text in meinem Gedächtnis, ja selbst das ganz typische Knistern vermeine ich zu hören. So lange her. Ich lese die Titel und bleibe am letzten hängen: “Ahn ´ner Leitplank”.
Ein zu bunter Blumenstrauß neben der Leitplanke, Rest von Sand kaschieren die Ölspur. Verkehr pulsiert als wäre nichts geschehen. 1984. Wie alt mag der Fahrer des verunglückten Wagens gewesen sein? 18, vielleicht auch zwanzig. Ein kurzer Aufschrei damals, den niemand gehört hat, eine Sekunde Unaufmerksamkeit und all die Jahre, die uns heute von 1984 trennen, gab es für diesen Mann nicht mehr. Jäh abgerissen die Pläne, ausgeträumt der Traum vom erfolgreichen Gitarristen; zerplatzt wie eine Seifenblase: die Wolke auf der er mit seiner Freundin kuscheln wollte. Verwaist die Eltern; allein die Kumpel, denen er ein verläßlicher Freund war. Er wäre heute 38 Jahre, hätte vielleicht selber Kinder. Würde sich Sorgen um deren Ausbildung machen und wäre unruhig, wenn sie abends erst spät nach hause kommen. Vielleicht wäre er gar nicht Gitarrist geworden, sondern Zimmermann oder Bäcker. Vielleicht hätte die Wende ihn in die Politik verschlagen oder er würde in Afghanistan helfen. Vielleicht wäre er ein guter Vater gewesen, vielleicht hätte er kaum Zeit für seine Familie. Vielleicht. Möglichkeiten eines Lebens, die mitten in der Nacht an einer Leitplanke 1984 endeten.
„Er hatte doch das ganz Leben noch vor sich!“ Fassungslos müssen wir immerwieder hinnehmen, daß Menschen zu früh sterben, Lebensfäden abgerissen werden, Träume und Möglichkeiten des Lebens plötzlich ausradiert sind. „Verdammt lang her, verdammt lang!“ Ich selber als Jugendlicher. Welche Tagträume: Schriftsteller, Schauspieler, Journalist oder Herausgeber einer Zeitung! Und jetzt, fast zwanzig Jahre später? Auch in meinem Leben sind Träume und Möglichkeiten verschwunden. Nicht zerschellt an einer Leitplanke, sondern im langsamen Fluß der Zeit versunken. Geopfert oder über Bord geworfen. Man muß sich entscheiden!
1984 in einer regnerischen Nacht: „er hatte doch sein Leben erst noch vor sich!“. – Aber was hatte er dann hinter sich? Ich atme, spüre wie kalte Luft aus dem geöffneten Fenster in meine Lungen strömt, merke eine Kraft in meiner Brust: Ich lebe! Und plötzlich ist mir klar: Nicht die Länge gibt einem Leben Sinn, sondern die Tiefe.

Th.-M. Robscheit, November 2003

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