6. September 2015

Die gelbe Kinderbibel

Von Th.-M. Robscheit
This entry is part 27 of 136 in the series geistliches Wort

Ich bin mir ganz sicher gewesen, dass ich die Kinderbibel meines Sohnes mit in mein Arbeitszimmer genommen hatte. Sie war auch tatsächlich nicht mehr im Bücherschrank. Aber im Arbeitszimmer lag sie nicht! Ein großes gelbes Buch! Das muss man doch sehen. Ich habe überall in den Regalen nachgeschaut; jeden Ablagestapel durchgesehen. Die Kinderbibel ist nicht da. Also bin ich wieder ins Kinderzimmer. Im Regal lag sie (natürlich) immer noch nicht. Ob mein Sohn sie als Zaun für einen Spielzeugzoo irgendwo verbaut hat? Oder als Stadtmauer für die Gummiritter? Nein, scheinbar nicht, auf dem Fußboden war auch kein gelbes Buch zu sehen. Also wieder ins Arbeitszimmer! Noch mal alles durchgesehen; keine Spur von der Bibel! So ein großes gelbes Buch ist doch auffällig! Das gibt’s doch gar nicht!

Wahrscheinlich, liebe Leserinnen und Leser, ist Ihnen das auch schon so gegangen. Plötzlich ist etwas verschwunden, von dem man doch ganz sicher zu wissen glaubt, wo man es hingelegt hat: ein Schlüssel vielleicht, der sich plötzlich in Luft aufgelöst hat, das Portmonee oder die Fahrzeugpapiere. Nicht zu sehen. Wir fangen dann fieberhaft an nachzudenken: „Wo habe ich das zuletzt benutzt?“, oder: „Wann habe ich es zuletzt gesehen?“ Wenn alles nicht hilft: „Wer hat das nur wieder weggeräumt? Dass aber nichts an seinem Platz sein kann!“ Wir können uns richtig über unsere Kinder, Frauen oder Männer, Geschwister oder wer sonst noch zur Hand ist aufregen!
Die gelbe Kinderbibel. Wo kann die nur stecken? Ausgerechnet jetzt, wo ich nun genau dieses Buch brauche, hat es jemand versaubeutelt! Gestohlen womöglich!
Ich rege mich da schon bei einer Kinderbibel so auf, man kann sich kaum vorstellen, wie es den Frauen am Ostermorgen ging, als sie Jesus nicht mehr fanden. Weg! Grab leer! Die Frauen waren verzweifelt, wütend und schockiert: wer hat den Leichnam gestohlen?
Ja, aber dann war alles ganz anders: plötzlich treffen sie den auferstandenen Herrn! Allerdings: Maria Magdalena hält Jesus für den Gärtner, die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus erkennen Jesus ebenfalls nicht. Wieso nicht? Haben die keine Augen im Kopf?
Apropos Augen im Kopf: die Kinderbibel. Am nächsten Tag lag sie mitten auf dem Arbeitszimmertisch: groß und leuchtend gelb. Sie hatte auch am Tag vorher dort gelegen, nur wahrgenommen hatte ich sie nicht. Warum bloß nicht? Vielleicht weil ich alles mögliche erwartet hatte, aber nicht, dass sie ganz offen mitten auf einem leeren Tisch liegt.

Maria Magdalena hat nicht erwartet, dass Jesus tatsächlich aufersteht, die Jünger ebenso wenig. So wie sich die Freunde Jesu schwer damit getan haben, etwas zu akzeptieren, das jenseits ihres Erfahrungshorizontes liegt, so schwer tun auch wir uns heute damit. Es ist uns Menschen eigen, dass wir in unseren eigenen Erfahrungen verhaftet bleiben: das was wir kennen, erwarten wir. Und was wir erwarten, das sehen wir auch, das bestätigt unsere Erfahrungen. Ein Kreislauf. So kommen wir in der Welt zurecht: die Erfahrungen und Vorurteile werden bestätigt. Wir sind oft blind sind für das nahe Liegende, bloß weil wir es uns nicht vorstellen können. Die Welt ist mehr als unser grauer alltäglicher Trott! Nicht Vergeblichkeit und Tod sind die letzte Wirklichkeit, sondern das farbige, unglaubliche Leben in seiner Fülle! Das ist die Osterbotschaft! Und daran erinnert uns Gott hin und wieder, auch mit einer gelben Kinderbibel, die mitten auf dem Tisch liegt und die wir in unserer geistigen Enge nicht sehen.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Ostern und staunende offene Augen!
Ihr Pfarrer Th.-M. Robscheit, Kapellendorf

April 2007

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